Donnerstag, 1. September 2016

Es gilt, eine Schlacht zu schlagen (STUNT 100)

"Bergsteigen ist zweckfreies Tun. Zweckfreies Tun ist nur dann echt, wenn es in einer zweckfreien Landschaft ausgeübt wird. Sonst wird es zu einem kitschigen Spiel."  

Diese Worte Karl Kolars, der Mitte des 20. Jahrhunderts als Funktionär des Wiener Lichtbildner Klubs Bergfotolehrgänge im österreichischen Alpenverein initiierte, lassen sich eins zu eins auf das übertragen, was ich am kommenden Wochenende vorhabe. Ultralaufen, erst recht wenn es um die Königsdistanz von 100 Meilen (160 Kilometer) geht, ist zweckfreies Tun. Wenn sich dazu nur knapp mehr als zwanzig Läufer einfinden, der Veranstalter ohne große Sponsoren und Publicity auskommt und allein um des Laufens Willen gelaufen wird, dann wird in einer zweckfreien Umgebung gelaufen. Eingebettet zwischen den Sieben Bergen und dem Hildesheimer Wald liegen Start und Ziel. Sibbesser Tag und Nacht Trail - oder einfach nur STUNT 100 heißt das Abenteuer, dem ich mich ganz zweckfrei zuwende.

Dachsteinsüdwand im letzten Abendlicht

Die Südwand des Dachsteins ragt 850 m über der Ramsau auf. Sie wirkt von dort uneinnehmbar und monströs; freundlich in der Farbe, doch grimmig im Aufbau. Auf dem Foto scheint sie gerade aus der Hölle hervorgekommen zu sein, denn letzte Feuer züngeln um ihre Spitze. Doch auf den zweiten Blick erkennt man das liebliche Rot des verblassenden Sommertages, der sie wärmer als am Morgen erscheinen lässt. Auch tun sich Bänder und Verschnitte auf, die eine Durchsteigung möglich machen. Und als ich an diesem Abend auf dem Hof des Hotels stand und meinen Blick auf den Dachstein richtete, da waren die 160 Kilometer ganz nah. Und was mir vor Monaten und Wochen  noch wie ein Himmelfahrtskommando vorkam, wurde nun greifbar, realisierbar. 
Ramsau liegt auf einem Hochplateau über dem Ennstal, was der Gemeinde viel Sonne, Touristen und und Geld bringt. Die Zufahrtsstraßen sind steil und die Häuser und Höfe in dem weitläufigen Areal verstreut, sodass überhaupt nicht auffällt, in der größten Tourismusgemeinde der Steiermark zu sein. Unten im Tal der Enns liegt Schladming mit seinem schönen Rathaus, hinter dem sich der Dachstein erhebt. 

Schladminger Rathaus vor dem Dachsteinmassiv

Am Ende der Schladminger Fußgängerzone vom Salzburger Tor kommend, steht ein Denkmal, das an den Schladminger Bauern- und Knappenaufstand im Jahre 1525 erinnert. Der Schladminger Aufstand steht in einer Reihe von Auseinandersetzungen zwischen dem gemeinen Volk und der herrschenden Klasse (geistlich wie weltlich), die auch als Deutsche Bauernkriege bezeichnet werden. Als vom Bergbau geprägte Stadt waren es vor allem die Knappen, die sich vermehrt zum aufkommenden Protestantismus bekannten und damit den Zorn der katholischen Kirche auf sich zogen. Nachdem ein Aufstand im nahen Gasteinertal zur Belagerung der Festung Hohensalzburg , in deren Ausbau ein erheblicher Teil des im Bergbau erwirtschafteten Geldes ging, führte, schlossen sich auch die Schladminger Knappen zusammen. Daraufhin machte sich der Landeshauptmann Siegmund von Dietrichstein ins Ennstal auf, um den Aufstand niederzuschlagen. Die Schladminger Knappen hatten sich zurückgezogen und aus angrenzenden Regionen unter Führung von Michael Gruber Unterstützung erhalten. 3500 Aufständische, die weder Reiter noch Geschütze hatten, standen 3000-4000 Männern unter Dietrichstein gegenüber, der sich in der Stadt, umgeben von reißenden Gebirgsbächen und steilen Bergen, sicher fühlte und auf Verstärkung wartete.

Denkmal in Erinnerung an den Schladminger Bauernaufstand, bei dem das Bauernheer die ständischen Truppen am 3. Juli 1525 besiegt und Schladming erobert haben. Das Denkmal wurde 1925 von den steirischen Bauernbündlern errichtet.

Ein Angriff durch das Tal war also unmöglich und so teilte Gruber sein Heer in Pichl, wo heute die Zufahrtsstraße zu dem wunderbaren Hotel, in dessen Einfahrt das Foto vom Dachstein entstand, von der Schnellstraße im Ennstal abzweigt. Ein Teil stieg in der Nacht und im unwegsamen Gelände Richtung Ramsau empor, der andere Teil querte den gegenüberliegenden Berghang, stieg ins Untertal, das heute mit dem Zusatz "Wilde Wasser" vermarktet wird, ab und auf den Fastenberg hinauf. Beide Teile waren nun oberhalb von Schladming und mit dem überraschenden Angriff in der Nacht vom 2. auf den 3. Juli 1525 konnte Schladming eingenommen werden. Ein auf den ersten Blick unmögliches Unterfangen gelang also Dank guter Planung, einer Portion Mut und etwas Glück.

Ärmlinge mit der Aufschrift: Quäldich.de

Es gilt, am Samstag eine Schlacht zu schlagen. Ich habe nicht ausreichend Trainingskilometer in den Beinen, erfreue mich ansonsten aber bester Gesundheit und bin ausreichend verrückt, um nicht den Kopf in den Sand zu stecken. Mein Heer zählt eine Frau, zwei Männer und einen Hund - ebenfalls alle ausreichend fit -  und ein Angriffsplan liegt auch schon bereit. Die Geschichte vom Schladminger Aufstand wird mir wahrscheinlich durch den Kopf gehen, wenn ich nach 13 Stunden Laufzeit die Stirnlampe aufsetze und in der Dunkelheit und Stille der Nacht durch das Leinebergland laufe. Letztendlich läuft alles auf Vergils "Der Geist bewegt die Materie" hinaus.

Der Aufstand in Schladming fand im September 1525 sein Ende, als sich die Knappen den anrückenden Truppen von Niklas Graf Salm, der später Wien erfolgreich gegen die Türken verteidigte, ergaben. Ich kann es nicht versprechen, aber ich hoffe, dass der Lauf ein besseres Ende als der Schladminger Bauernaufstand nimmt.

Montag, 11. Juli 2016

Das einfache Leben


Zufälle sind unvorhergesehene Ereignisse, die einen Sinn haben.
Diogenes von Sinope
Eine Woche nach dem Zugspitz Ultratrail ging es meinen Beinen schon wieder sehr gut und so entschieden Mone und ich, am Sonntag eine längere Wanderung zu machen. Ein Ziel war schnell gefunden: Mit der Rotwand sollte ein klassischer Münchner Hausberg bestiegen werden. Die Rotwand liegt im Mangfallgebirge unweit des Spitzingsees und ist von dort leicht und von dort Bergstation der Taubsteinbahn noch leichter zu erreichen. Viel Trubel und ein großer Rummel war also vorprogrammiert. Drei Punkte sorgten jedoch dafür, dass es eine beschauliche Bergwanderung wurde, die mir wieder einmal vor Augen geführt hat, dass es nur wenig braucht, um ein schönes Leben zu haben.

Ein rosa Handtuch liegt auf einer grünen Wiese vor dem nebelverhangenen
Soinsee.

1. Schlechtes Wetter. Mir scheint, als ob der Sommer im Süden ziemlich verregnet sei. Immer, wenn ich die Donau überquere, beginnt es zu regnen und auch an diesem Sonntag tröpfelt es eine Stunde nach dem Aufstehen auf's Dach. (Ja, gestern hat die Sonne geschienen und es hat für eine Radtour entlang der Isar bis zur Grünwald Brücke und zurück gereicht. Aber ist schon eher grau dieser Tage). Nicht, dass es im Norden wärmer ist, aber irgendwie trockener. Da man nie so genau weiß, wann es aufklart, fahren wir trotzdem in die Berge - und weniger los ist dann auch.

Ein Bach bahnt sich seinen Weg durch den dichten
Wald.

2. Ein abgelegner Ausgangsort. Um Trubel und Skistationen zu entgehen, wählen wir Geitau als Ausgangspunkt für die Wanderung. Es gibt hier einen Bahnhof, der von der Bayrischen Überlandbahn angesteuert wird. Da wir gerade ein Auto in München haben, fahren wir ausnahmsweise mit diesem in die Berge - eine Landpartie mit dem Auto führt manchmal durch schöne Gegenden, wie heute das Leitzachtal. Der Weg von hier ist etwas länger auf die Rotwand und zu Beginn etwas fad, aber nach der Heubergalm und dem Eintritt in den Wald äußerst interessant. Der Steinbach ist dabei steter Begleiter, der sehr abwechslungsreich - mal als beschaulicher Bach, dann wieder als brausender Wasserfall - linker Hand gen Geitau fließt.

Der Autor sitzt essend auf einem Stein. Im Hintergrund ein Bachlauf.

3. Nimm das, was Du bekommst, und sei glücklich damit. Gipfelglück konnten wir nicht vermelden, es hat sich aber trotzdem gelohnt. Dicker Nebel hing in den Bergen, der sich auch nicht im Laufe des Vormittags verzog, sodass wir am Soinsee beschlossen, nicht weiterzugehen. Der Weg war zehn Meter zu sehen - das war es dann aber auch schon. So blieb Zeit, um im See zu baden (KALT!!!), sich auf der Schellenberg zusammen mit den Sennerinnen bei einem Kaffee wieder aufzuwärmen und den großen Wasserfall unterhalb des Schellenbergs etwas abseits des Weges zu bestaunen. Auf dem Rückweg gab es dann sogar noch Lammsbräu Helles alkoholfrei für den Fahrer im Café GlückSeeligkeit am Schliersee.

Montag, 27. Juni 2016

Jeder Tag ist ein kleines Leben für sich

Ein jeder Tag ist wie ein kleines Jahr,
und jede Stunde Bergeinsamkeit ist wie ein Hauch der Ewigkeit.
Fernöstliche Weisheit

Seit ich mich vor zehn Minuten in den Downhill vom Osterfelder Kopf unterhalb der Alpspitzbahn geworfen habe, prasselt unaufhörlich Regen auf mich ein. Die Wege, die ohnehin schon vom Regen der vergangenen Tage aufgeweicht sind, werden nun noch rutschiger und die einsetzende Dunkelheit erschwert es ungemein, bergab zu laufen. Nie war ich so froh über meine Stirnlampe, die ich schon im Aufstieg in weiser Voraussicht an einer windgeschützten Stelle aus dem Rucksack geholt habe – um dann am höchsten Punkt doch anhalten zu müssen, um die Regenjacke rauszuholen. Etliche Läufer haben keine Stirnlampe auf und sind zu Wanderern mutiert, tasten sich langsam den Weg hinab und äußern dann auch noch Unverständnis, wenn ich mit einem mir vorauseilenden „Servus“ oder „Danke“ um etwas Platz auf dem schmalen Pfad bitte. Ich stoppe kurz und verstaue meine beschlagene Brille in der Brusttasche meiner Jacke, wohlwissend, dass ich auf der Entfernung zwischen Augen und Boden scharf genug sehen kann. Vor dem Hupfleitenjoch hält sich ein letztes Schneefeld hartnäckig im steilen Nordhang, trotzt Regen und Sonne und lässt mich kurz abstoppen. Am Ende des kurzen Gegenanstiegs wartet Kathi, die auf der kürzeren Strecke von Leutasch unterwegs ist, und in freudiger Erwartung, sie kurz drücken zu können, stürme ich die letzten positiven Höhenmeter des heutigen Tages hinauf. Wir unterhalten uns kurz, ich wünsche ihr alles Gute für die letzten Kilometer und gehe wieder in den Laufschritt über. Wo der Weg kein Gefälle aufweist, ist er eine einzige Pfütze. Es ist sinnlos auszuweichen, denn das Wasser ist überall. Am letzten Verpflegungspunkt will ich nur ganz kurz anhalten, um etwas Cola zu trinken. Zucker und Koffein sind die ideale Mischung, um auf dem letzten Downhill konzentriert bleiben zu können. Dann kommt mir Alex am VP entgegen – er muss noch die Schleife über den Osterfelder Kopf drehen, sieht aber gut aus und ich weiß, dass auch er es ins Ziel schafft – und wir unterhalten uns kurz. Letztendlich werden mich diese drei Stopps (Regenjacke, Kathi, Alex) eine Zeit von unter 15h kosten, aber das ist mir nach diesem langen Tag egal.




Wie das Wasser bahnen Tobias und ich uns den Weg nach unten, überholen erschöpfte Läufer und surfen diesen Singletrail aus Wasser, Erde und Steinen bei Dunkelheit hinab, als ob wir flach in der Helligkeit des Tages auf einer geteerten Straße liefen. Auf Tobias bin ich zu Beginn des letzten Abstiegs aufgelaufen. Er ist ebenfalls auf der Langdistanz des ZUT unterwegs – hat also bereits 96 Kilometer und 5400 positive Höhenmeter in den Beinen und nur noch vier Kilometer vor sich – und wollte mich bereits in einer Kehre an sich vorbeilassen, doch ich bleibe hinter ihm, denn wir sind in etwa gleich schnell und mit zwei Stirnlampen wird der Weg besser ausgeleuchtet. Unabgesprochen stellt sich bei uns eine kleine Arbeitsteilung ein: Tobias hat den unmittelbar vor uns liegenden Abschnitt im Blick und warnt vor Gefahrenstellen, ich mache vor uns laufende, langsamere Läufer auf uns aufmerksam, in dem ich entweder die Stöcke gegeneinander schlage oder etwas lauter rufe – Arbeitsteilung at its best! Drei Kilometer noch zum Ziel. Der Blick geht auf die Uhr, die eine Zeit von 14:41h anzeigt. Eigentlich kein Problem, 19 Minuten für die verbleibende Strecke viel Zeit, doch ich weiß, dass noch zwei rutschige Wiesen und mindestens ein Gatter vor uns liegen. Als uns der Wald in Hammersbach ausspuckt, wird der Schritt länger und wir nehmen noch mehr Tempo auf. Wir fliegen an anderen Läufern vorbei, pushen uns Gegenseitigkeit, schneiden Kurven und bewerten die StVO einvernehmlich als Regularium, das einzig und allein dazu dient, die schnellstmögliche Fortbewegung von Punkt A nach Punkt B zu erschweren. Ich habe das Gefühl, dass Tobias abfällt, winke ihn mit dem Stock wieder ran. Vorletzte Kurve vor dem Ziel, Zeitmessung, 140m to go. Wahrscheinlich werden unsere Namen jetzt angesagt, schießt es mir in den Kopf. Letzte Kurve, helles Licht, der Tag geht mir durch den Kopf, abklatschen mit Tobias, Zielbogen. Mone kommt mir entgegen, Freddy steht im Auslauf des Ziels und beide nehmen mich in den Arm. Wenn jeder Tag wie ein kleines Leben ist und Sterbenden kurz vor dem Tod das komplette Leben vor dem inneren Auge ablaufen soll, ist das hier die Zeit nach dem Tod – und sie könnte schöner nicht sein.

Freitag, 17. Juni 2016

Denn er wusste nicht, was er tut

Lehrstuhl- und Doktorarbeit führen dazu, dass ich nicht nur hier weniger veröffentliche, sondern auch insgesamt weniger über Bewegung allgemein und Laufen speziell schreibe - Tourenbücher sollten schließlich auch in regelmäßigen Abständen gepflegt werden. So sind seit dem letzten Eintrag mehr als vier Monate vergangen, in denen die Brocken-Challenge der einzige Wettkampf war und Lauftraining mehr Ausnahme als Regel war - die letzten vier Wochen ausgenommen.


Zur BC kann ich den vielen wundervollen Berichten hier, hier und hier als persönliche Note nur hinzufügen, dass es eigentlich wie im letzten Jahr lief (gemächlicher Start, Top Ten in Barbis, Magenprobleme im Entsafter I, aufgepäppelt am Jagdkopf, Finish in unter 8h, wunderbare Massage durch Rado, Kräuterschnaps zur Regeneration, heiterer Fußweg vom Gipfel, entspannte Rückfahrt nach Göttingen). Die BC ist zu einer Hassliebe geworden, der ich aber zumindest in 2017 noch die Treue halte, auch wenn der Winter alles andere als meine Lieblingsjahreszeit und laufen hier für mich mehr Qual als Bereicherung meines Alltags ist.

Partenkirchen vor Alp- und Zugspitze

Die Zeit danach war vor allem durch schöne Wanderungen, Langlauf und Schneeläufe geprägt. Wer auf der Suche nach einem schönen Urlaubsziel für den Winter ist, dem sei die Region um Kufstein empfohlen. Die Anbindung über öffentliche Verkehrsmittel ist perfekt (1h von München), die einzelnen Gemeinden sind unproblematisch mit dem Bus zu erreichen und die Wintersportmöglichkeiten unbegrenzt: Alpinski in der SkiWelt Wilder Kaiser, Langlauf in Kössen, Wandern im Zahmen Kaiser (Vorderkaiserfeldenhütte mit grandioser Aussicht hat ganzjährig auf) oder steil über dem Inntal auf den Pendling, Spazieren gehen am Hechtsee, in dem sich der Brünnstein wie das Matterhorn im Riffelsee spiegelt oder einfach nur stumpf im Inntal auf dem Radweg laufen.


Als es dann wärmer wurde - hier im Norden also ab Ende April - bin ich dann auch wieder mehr gelaufen, was Körper und Geist außerordentlich gut tat. Auch Bier tut - in Maßen - Körper und Geist tut, das Kloster Andechs wurde aber bei einer Ammerseeumrundung mit Martin und Michael und ortskundiger Begleitung von Sandro trotzdem links liegen gelassen. So kamen nach und nach Kilometer in die Beine und Trainingseinheiten gespickt mit Höhenmetern ließen in mir die Hoffnung aufkommen, den nächsten Wettkampf halbwegs passabel überstehen zu können. Da die Zugspitze mehr und mehr zu einer Großbaustelle verkommen ist, bleibe ich dem Gipfelrummel (voraussichtlich) in diesem Jahr fern und nehme mich lieber der Umrundung des Wettersteinmassivs an. 100 Kilometer sind dafür beim Zugspitz Ultra Trail (ZUT) zurückzulegen und ich werde diesen Lauf, dem eine wunderschöne Landschaft als Kulisse dient, genießen, sowie man eben 5400 positiven Höhenmetern genießen kann. Der Vorhang öffnet sich am Samstag (18.6.) um 7:15 und das Spektakel kann live verfolgt werden!


Samstag, 6. Februar 2016

Brocken-Challenge 2015: Here we go! [Part II]


Hinweis: Der erste Abschnitt des zweiten Teils enthält einige Überlegungen, wie ein (Ultra-) Wettkampf möglichst erfolgreich bestritten werden kann. Wer sich mit dieser Einleitung, die natürlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, nicht auseinandersetzen will, kann direkt zur Fortsetzung der Renngeschichte springen. Eventuell entwickelt sich dieser Abschnitt zu einem eigenständigen Beitrag, vorerst bleibt er jedoch als Einleitung zu diesem zweiten Teil bestehen.
Beim Marathon ist eigentlich kein wirklicher Angriff mehr möglich. Im Grunde genommen geht es nur noch darum, den eigenen Niedergang so gering wie möglich zu halten. (Faris Al-Sultan im Rahmen der Berichtserstattung zum Ironman in Frankfurt/M., Juli 2015)
Diese zwei Sätze von Faris Al-Sultan können eins zu eins auf einen Ultramarathonlauf übertragen werden. Positionsveränderungen finden, bis auf wenige Ausnahmen, nicht mehr durch eine Tempoverschärfung statt, vielmehr macht derjenige noch Plätze gut, der gegen Ende des Wettkampfs am wenigsten Zeit verliert. Gefragt und gefordert ist also Geduld, um sich nicht in der Hektik der frühen Phase eines Wettkampfs Hals über Kopf das Tempo anderer Läufer diktieren zu lassen. Das im Vorfeld veranschlagte Tempo sollte trotz der frischen Beine und des Adrenalins, dass in diesen Minuten den Körper durchströmt, nicht überschritten werden. Geduld, und das gilt nicht nur für den Wettkampf, sondern für viele Bereich des Lebens, hat man - oder man kann sie sich aneignen. Wenn man von Natur aus nicht besonders geduldig ist, geben Sicherheit und, als Teil davon, auch Planung Geduld. Wer weiß, dass der nächste Termin erst in einer halben Stunde ist, schreit nicht im Supermarkt nach einer zweiten Kasse, wenn vier Leute in der Schlange vor einem stehen. Planung bedeutet Sicherheit und Sicherheit ermöglicht Geduld. Planung bei einem Ultramarathon bedeutet nicht nur eine ordentliche Trainingsvorbereitung, sondern auch die Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Strecke. Dazu kommen natürlich noch weitere, subjektive Kriterien, die Sicherheit bedeuten oder erzeugen. Für mich ist das vor allem der Aspekt, dass ich nicht an der Sinnhaftigkeit meines Tuns zweifle. Was übrigens auch ein wichtiger Aspekt ist, um Stress zu vermeiden.
Meine Planung für den Wettkampf war aus meiner Sicht perfekt. Ich würde im Nachhinein keine Änderung daran vornehmen. Die Strecke war mir, was natürlich luxuriös und nicht für jeden und bei jedem Wettkampf machbar ist, zu 100 % aus Trainingsläufen bekannt. Hier eignet sich natürlich auch die Benutzung einer Landkarte, die auch Aufschluss über die zurückzulegenden Höhenmeter gibt. Auch war mir die Aufteilung der Verpflegungspunkte (VP) über den Verlauf der Strecke bekannt und ich hatte im Vorfeld fast schon einen minutiös ausgearbeiteten Plan für die Nahrungsaufnahme erstellt. Das ist insbesondere deshalb hilfreich, weil der Körper gerade in der frühen Zeit des Rennens noch keine Signale zur Nahrungsaufnahme ausschüttet und die Gefahr eines Defizits im weiteren Verlauf in dieser Hinsicht besonders groß ist. Des Weiteren war ich perfekt angezogen, da ich mir nach jedem Trainingslauf in den vergangenen kalten Monaten penibel die herrschenden Wetterbedingungen und die getragene Kleidung, teilweise exakt die jeweiligen Kleidungsstücke, notiert hatte. Das mag auf den ersten Blick vielleicht übertrieben klingen, jedoch erleichtert es zum einen die Kleidungsfindung direkt vor dem Lauf und zum anderen gibt es die Gewissheit beim Lauf, die für die herrschenden Wetterbedingungen die richtige Kleidung zu tragen. Daneben ist es auch wichtig, im Laufe des Trainings ein gewisses Körpergefühl zu entwickeln, dass einem Aufschluss über den aktuellen Zustand gibt. Hierauf im Wettkampf zu hören, ist unerlässlich und schon beim kleinsten Anzeichen einer Überforderung oder einem Unwohlseins zu Beginn des Rennens sollte man sich Gedanken über den Grund für diese Anzeichen machen. Sicherheit und damit Geduld hatte ich somit. Demut vor der Strecke hatte ich, auch da es mein erster Ultra war, ohnehin. Perfekte Voraussetzungen also, um den eigenen Niedergang so gering wie möglich zu halten.
Barbis, 14. Februar 2015, ca. 9:35


Der VP in Barbis kann mit Fug und Recht neben Start und Ziel als einer der Drehpunkte der Brocken-Challenge bezeichnet werden. Er liegt fast genau bei Kilometer 42,5, ein Marathon ist schon absolviert und mehr als die Hälfte der Gesamtstrecke damit schon zurückgelegt. Hier ist außerdem ausreichend Platz für Begleiter, um die eigenen Schützlinge in Empfang zu nehmen und für uns Läufer ein guter Zeitpunkt, ausreichend Nahrung und Trinken und eventuell Wechselbekleidung aufzunehmen. Denn Barbis bildet zugleich das Tor zum Harz und den Abschluss des Eichsfelds. Von nun an geht es mehr oder minder nur noch bergauf – auch wenn bis hierhin schon einige zu überbrückende Anstiege, die nicht verachtet werden dürfen, von einigen Läufern in der Vorbereitung aber unterschätzt werden.. Der Einlauf nach Barbis ist daneben deshalb besonders schön, weil die Straße leicht abfallend zum VP führt, und der vorauseilende Blick schon früh Freunde, Bekannte und – besonders wichtig – die liebevolle Betreuung des Stands durch Helfer von Naturkost Elkershausen erfasst. Weitere Ausführungen erspare ich mir an dieser Stelle, da sie bereits im ersten Teil erfolgt sind. Für die Fortführung der Geschichte möchte ich also an der Stelle ansetzen, an der mein guter Freund Lars Donath den VP verlässt und ich ihm – etwas überstürzt – nacheile. Lars hatte den VP nach kurzer Pause ebenfalls etwas überstürzt verlassen, weil er davon ausgegangen war, dass ich mich bereits auf den Weg gemacht hätte. So innig ist unsere läuferische Beziehung.
Eine Besonderheit der Brocken-Challenge ist, dass nach den VPs meist ein Anstieg folgt. Lediglich hinter dem VP Rollhausen – hier geht es erst nach ca. einem Kilometer hinauf zur Tilly-Eiche – und dem Jagdkopf folgt nicht unmittelbar ein Anstieg. Hinter Barbis beginnt ein steiler Stich: Topographie und zurückgelegte Distanz sowie die bevorstehenden Aufgaben erzwingen, dass viele Teilnehmer vom Lauf- in den Wanderschritten wechseln. Als ich den Aufstieg beginne, sehe ich vor mir Rob Walzka und Lars wandern und beschließe, nachdem ich laufend zu Lars aufgeschlossene habe, auch zu gehen, um Kraft zu sparen. Der Zeitverlust ist, wenn überhaupt, nur äußerst gering und zu zweit geht es sich leichter. Oben angekommen unterqueren wir eine Bundesstraße und passieren dann ohne nennenswerte Wartezeit eine weitere Straße. Nun sind wir auf einer kleinen Freifläche angekommen, von der automatisch linker Hand der Blick auf das von Wäldern märchenhaft eingebettete Bad Lauterberg fällt. Kurz vor dem Waldrand treten wir zur Toilette aus und werden von zwei Läufern, den späteren fünftplatzierten Michael Ahrend und Stefan Helbig, überholt. Sie müssen sich anscheinend verlaufen haben, denn an der Rhumequelle waren sie noch vor Lars und mir. Später erfahre ich, dass sie im Wald zwischen der Rhumequelle und Barbis falsch, genauer gesagt nicht abgebogen sind. Nach erfolgreicher Pinkelpause, die sich aufgrund der ersten Kleidungsschicht, die sorgfältig in der Hose verstaut werden will, in die Länge zieht, führt der Weg gleichmäßig auf breiten Forstwegen bergauf. Dieser Umstand mag dazu verleiten, den folgenden Teil der Strecke als angenehm zu empfinden, jedoch zeigt sich die Janusköpfigkeit der Forstwege erst, wenn man auf ihnen läuft. Denn auch im Winter fahren hier Autos der Forstarbeiter oder Waldbesitzer, sodass der Schnee zusammengepresst wird, an der Oberfläche immer wieder auftaut, um in der Nacht zu gefrieren, weshalb in der Folge eine harte, mit Rillen versehene Oberflächenstruktur entsteht. Es läuft sich sehr unrund, frischer Schnee ist angenehmer. Der Forstweg zieht sich leicht ansteigend in Richtung Wasserscheide (Weser/Elbe) und ich merke, dass Lars Probleme hat, mein Tempo zu halten. Ich beschließe, mich fortan alleine Richtung Brocken durchzuschlagen. An der Wasserscheide führt die Strecke ein kurzes Stück bergab ins Steinaer Tal. Hier ist es deutlich kühler und die bewaldeten Hänge links und rechts des Wegs sind weiß gezuckert. Vor mir läuft Rob, den ich innerhalb kürzester Zeit überholen kann, und Patrick Stein, der anscheinend dem hohen Anfangstempo Tribut zollen muss. Ich komme auch Patrick schnell näher, nehme jedoch etwas Tempo raus, da ich deutlich zu schnell unterwegs bin. Außerdem macht mir mein Magen etwas Probleme, was ich auf zu viele schnelle Schlücke kalten Wassers aus meiner Trinkpulle zurückführe. Eine Unachtsamkeit, die bei genauerer Lektüre von Meyers Reisebuch für den Harz aus dem Jahr 1905 vermieden hätte werden können, heißt es dort auf S. 5 doch: „Einige Schluck frischen Wasser schaden nichts; vieles Trinken schwächt. Wer empfindlich beim Kaltwassertrinken ist, vermische das Wasser im Lederbecher mit etwas Kognak“. Von hinten schließt nun Michael Wagner auf, der am Ende noch auf Rang drei vorlaufen wird und wie immer eine tolle Rennaufteilung hat. Er erreicht mich kurz vor dem Jagdkopf, als ich an einer steileren Rampe etwas gehe und gibt mir einen Tipp, um den rebellierenden Magen zu bekämpfen. Am Jagdkopf lasse ich mich in den bereitgestellten Liegestuhl fallen und genehmige mir Tee und Brühe. Auch Patrick scheint es nicht gut zu gehen, während sich Michael nach kurzer Pause verabschiedet, gerade als Lars die letzten Meter zum VP zurücklegt. Lars, Patrick und ich brechen dann noch einer gefühlten Ewigkeit gemeinsam auf und gehen zunächst durch den knöcheltiefen Schnee. Irgendwann gebe ich mir einen Ruck und falle in den Laufschritt. Magen und Beine fühlen sich wunderbar an, der Schnee glitzert im Sonnenlicht und der Wald gibt immer wieder Blicke Richtung Oderstausee und Brocken frei. Ich fühle mich fast wie neugeboren. Irgendwann drehe ich mich um, doch hinter mir ist niemand zu sehen. Hier lässt es sich hervorragend laufen, denn der Schnee ist griffig und nicht zertreten. Erst kurz vor der Lausebuche gleicht die Strecke einem Volleyballfeld, sodass der Schritt unrund und das Tempo niedriger wird. Ich stapfe und schnaufe den Anstieg hinauf, wohlwissend, dass es danach leicht bergab zum nächsten VP geht. Kurz hinter der Kippe schon kann ich die Helfer sehen und auch Zoë und Willi kommen ins Blickfeld, die links und rechts des Weges im Wald herumlaufen.