Ein jeder Tag ist wie ein kleines Jahr,
und jede Stunde Bergeinsamkeit ist wie ein Hauch der Ewigkeit.
Fernöstliche Weisheit
und jede Stunde Bergeinsamkeit ist wie ein Hauch der Ewigkeit.
Fernöstliche Weisheit
Seit ich mich vor zehn Minuten in den Downhill vom Osterfelder Kopf unterhalb der Alpspitzbahn geworfen habe, prasselt unaufhörlich Regen auf mich ein. Die Wege, die ohnehin schon vom Regen der vergangenen Tage aufgeweicht sind, werden nun noch rutschiger und die einsetzende Dunkelheit erschwert es ungemein, bergab zu laufen. Nie war ich so froh über meine Stirnlampe, die ich schon im Aufstieg in weiser Voraussicht an einer windgeschützten Stelle aus dem Rucksack geholt habe – um dann am höchsten Punkt doch anhalten zu müssen, um die Regenjacke rauszuholen. Etliche Läufer haben keine Stirnlampe auf und sind zu Wanderern mutiert, tasten sich langsam den Weg hinab und äußern dann auch noch Unverständnis, wenn ich mit einem mir vorauseilenden „Servus“ oder „Danke“ um etwas Platz auf dem schmalen Pfad bitte. Ich stoppe kurz und verstaue meine beschlagene Brille in der Brusttasche meiner Jacke, wohlwissend, dass ich auf der Entfernung zwischen Augen und Boden scharf genug sehen kann. Vor dem Hupfleitenjoch hält sich ein letztes Schneefeld hartnäckig im steilen Nordhang, trotzt Regen und Sonne und lässt mich kurz abstoppen. Am Ende des kurzen Gegenanstiegs wartet Kathi, die auf der kürzeren Strecke von Leutasch unterwegs ist, und in freudiger Erwartung, sie kurz drücken zu können, stürme ich die letzten positiven Höhenmeter des heutigen Tages hinauf. Wir unterhalten uns kurz, ich wünsche ihr alles Gute für die letzten Kilometer und gehe wieder in den Laufschritt über. Wo der Weg kein Gefälle aufweist, ist er eine einzige Pfütze. Es ist sinnlos auszuweichen, denn das Wasser ist überall. Am letzten Verpflegungspunkt will ich nur ganz kurz anhalten, um etwas Cola zu trinken. Zucker und Koffein sind die ideale Mischung, um auf dem letzten Downhill konzentriert bleiben zu können. Dann kommt mir Alex am VP entgegen – er muss noch die Schleife über den Osterfelder Kopf drehen, sieht aber gut aus und ich weiß, dass auch er es ins Ziel schafft – und wir unterhalten uns kurz. Letztendlich werden mich diese drei Stopps (Regenjacke, Kathi, Alex) eine Zeit von unter 15h kosten, aber das ist mir nach diesem langen Tag egal.
Wie das Wasser bahnen Tobias und ich uns den Weg nach unten, überholen erschöpfte Läufer und surfen diesen Singletrail aus Wasser, Erde und Steinen bei Dunkelheit hinab, als ob wir flach in der Helligkeit des Tages auf einer geteerten Straße liefen. Auf Tobias bin ich zu Beginn des letzten Abstiegs aufgelaufen. Er ist ebenfalls auf der Langdistanz des ZUT unterwegs – hat also bereits 96 Kilometer und 5400 positive Höhenmeter in den Beinen und nur noch vier Kilometer vor sich – und wollte mich bereits in einer Kehre an sich vorbeilassen, doch ich bleibe hinter ihm, denn wir sind in etwa gleich schnell und mit zwei Stirnlampen wird der Weg besser ausgeleuchtet. Unabgesprochen stellt sich bei uns eine kleine Arbeitsteilung ein: Tobias hat den unmittelbar vor uns liegenden Abschnitt im Blick und warnt vor Gefahrenstellen, ich mache vor uns laufende, langsamere Läufer auf uns aufmerksam, in dem ich entweder die Stöcke gegeneinander schlage oder etwas lauter rufe – Arbeitsteilung at its best! Drei Kilometer noch zum Ziel. Der Blick geht auf die Uhr, die eine Zeit von 14:41h anzeigt. Eigentlich kein Problem, 19 Minuten für die verbleibende Strecke viel Zeit, doch ich weiß, dass noch zwei rutschige Wiesen und mindestens ein Gatter vor uns liegen. Als uns der Wald in Hammersbach ausspuckt, wird der Schritt länger und wir nehmen noch mehr Tempo auf. Wir fliegen an anderen Läufern vorbei, pushen uns Gegenseitigkeit, schneiden Kurven und bewerten die StVO einvernehmlich als Regularium, das einzig und allein dazu dient, die schnellstmögliche Fortbewegung von Punkt A nach Punkt B zu erschweren. Ich habe das Gefühl, dass Tobias abfällt, winke ihn mit dem Stock wieder ran. Vorletzte Kurve vor dem Ziel, Zeitmessung, 140m to go. Wahrscheinlich werden unsere Namen jetzt angesagt, schießt es mir in den Kopf. Letzte Kurve, helles Licht, der Tag geht mir durch den Kopf, abklatschen mit Tobias, Zielbogen. Mone kommt mir entgegen, Freddy steht im Auslauf des Ziels und beide nehmen mich in den Arm. Wenn jeder Tag wie ein kleines Leben ist und Sterbenden kurz vor dem Tod das komplette Leben vor dem inneren Auge ablaufen soll, ist das hier die Zeit nach dem Tod – und sie könnte schöner nicht sein.